Perspektiven in Zeiten der Krise.

Die Welt steht still. Was kann Kultur in einer globalen Krisensituation leisten? 

Sie kann stützen, motivieren, Impulse liefern, Perspektiven zeigen. 

UNSICHTBARE FRAUEN

UNSICHTBARE FRAUEN

Auf dem Hauptplatz des ladinischen Dolomitenorts St. Vigil in Enneberg steht seit vielen Jahrzehnten das bronzene, lebensgroße Denkmal einer Frau. Catarina Lanz war eine wehrhafte Bauernmagd, die 1797 mit ihrer Mistgabel gegen eine Division der napoleonischen Armee kämpfte. In diesem Dorf bin ich aufgewachsen. Dass Frauen ihren Platz in der Geschichte hätten, erschien mir in meiner Kindheit als selbstverständlich. Dass dem so nicht ist, wurde mir erst später bewusst, dass nämlich Catarina Lanz eine Ausnahme darstellt und die Geschichtsschreibung immer und vor allem einen Blick auf die Leistungen von Männern hatte. Um dieses Geschichtsbild zu festigen, verleugnete und verfälschte sie fast durchgehend die Verdienste von Frauen. 

Katharina Lanz ( 1771 - 1854) © sanvigilio.com

Die Geschichte vergisst Frauen, verschweigt sie, redet ihre Taten klein. Und diese Geschichte wurde von Männern geschrieben. Wer entscheidet, was für die Nachwelt festgehalten werden soll, nach welchen Kriterien geforscht werden soll, entscheidet auch, was vergessen werden darf, was irrelevant ist für eine historische Erzählung. Dazu gehören auch die Biografien, die Errungenschaften und der Lebensalltag von Frauen.

Nicht einmal Marie Curie

Nicht einmal Marie Curie entkam dem Schicksal der Unsichtbarmachung. Dass sie zwei Nobelpreise erhalten hatte – in Physik und in Chemie – und ihrem Ehemann Pierre wissenschaftlich überlegen war, hinderte die Pariser Stadtverwaltung 1946 nicht daran, eine Métro-Station „Pierre Curie“ zu nennen. Erst 2007 wurde der Name „Marie“ hinzugefügt.

Pierre et Marie Curie ist eine Station der Pariser Métro © marieccurie.blogspot.com

Selbst wenn manche Frauen zu Lebzeiten sehr erfolgreich waren, war dies keineswegs eine Garantie, dauerhaft in die Annalen der Geschichte einzugehen. Im Mittelalter gab es vielerorts Ärztinnen. In Salerno etwa lehrte die Gynäkologin Trotula. Die Expertin für Geburtshilfe, Geburtenkontrolle und Unfruchtbarkeit war weit über die süditalienische Stadt hinaus bekannt. Ihre Schriften waren als Standardwerke bis zum 16. Jahrhundert an allen Medizinschulen im Einsatz. Dann geriet sie seltsamerweise in Vergessenheit. Ihre Bücher schrieb man nun ihrem Ehemann zu, dem Arzt Johannes Platearius. Aus dem Namen Trotula wurde das männlich klingende „Trottus“. Irgendwann bezweifelte man gar ihre Existenz. Heute wissen wir nicht nur, dass sie gelebt hat, sondern auch, dass ihre medizinischen Erkenntnisse für ihre Zeit sehr progressiv waren.

Historische Darstellung der Trotula, Mittelalterliches Manuskript um 1200
Miscellanea medica XVIII, Wellcome Library, London

Das Schicksal unsichtbar gemacht zu werden, teilt sie mit unzähligen Frauen, die wahre Meisterinnen ihres jeweiligen Faches waren. Die britische Komponistin Rebecca Clarke etwa benutzte 1918 das Pseudonym Anthony Trent, um von der Kritik ernst genommen und gewürdigt zu werden. Als sie wenig später unter ihrem eigenen Namen einen wichtigen Preis gewann, nahmen die Kritiker allerdings an, es könne sich nur der berühmte Komponist Ernest Bloch hinter dem Namen Rebecca Clarke verbergen. Es sei schließlich unmöglich, dass eine Frau solch wunderbare Musik komponiere.

Wir wären wohl nicht auf dem Mond gelandet 

Wir wären wohl nicht schon 1969 auf dem Mond gelandet, hätte nicht die geniale Mathematikerin Katherine G. Johnson die Flugbahnen der Apollo 11 berechnet. Geehrt – also gesehen – wurde sie dafür erst Jahrzehnte später. Und gerade in Katherine G. Johnsons Schicksal wird ein weiteres Problem sichtbar. Sie ist Afroamerikanerin und als solche mit der Überschneidung und Gleichzeitigkeit von verschiedenen Diskriminierungskategorien konfrontiert. Kurz gesagt: Sie wurde nicht gesehen, weil sie eine Frau ist, und sie wurde nicht gesehen, weil sie schwarz ist.

FMH Filmtipp: Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen / Trailer: youtube.com

Katherine G. Johnson (1918 - 2020) © dpa

Viele Methoden

 Für die geschichtliche Unsichtbarmachung von Frauen gibt es viele Methoden: Man gesteht ihnen nur eine Nebenrolle zu, spielt ihre Taten herunter, stellt ihr Leben und das damit verbundene Werk falsch dar oder reduziert sie auf die Rolle der Ehefrau, Tochter oder Schwester eines berühmten Mannes. Das Problem ist also nicht, dass Frauen nichts Großartiges geleistet hätten. Es gab sie, diese Frauen, überall auf der Welt und in jeder Epoche. Und es ist gar nicht schwer, sie zu finden. Man muss ganz einfach danach suchen, offenen Geistes und offenen Herzens. Hunderte, tausende Frauen warten darauf, entdeckt oder wiederentdeckt zu werden. Blinde Flecken zu orten, mindert nicht die Verdienste von Männern, sondern zeigt, dass die Welt vielfältig, vielschichtig, bunt ist. 

 Das Frauenmuseum Hittisau hat als Leitsatz ein Zitat der 2013 verstorbenen, österreichisch-amerikanischen Historikerin Gerda Lerner gewählt:

Jede Frau verändert sich, wenn sie erkennt,
dass sie eine Geschichte hat.

Frauengeschichte ist reichhaltig und überaus spannend. Unzählige Schätze sind noch zu heben. Und ganz langsam scheint sich diese Erkenntnis durchzusetzen.

© penguinrandomhouse

 

Wie Frauen von der Mitgestaltung der Welt, in der wir leben, ausgeschlossen werden - und welche Folgen das für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden hat.

FMH Buchtipp: Unsichtbare Frauen -
Wie eine von Daten beherrschte Welt
die Hälfte der Bevölkerung ignoriert
von Caroline Criado Perez

Paperback, EUR 15,50
ISBN: 978 344 271 88 70

Text von Stefania Pitscheider Soraperra, Direktorin des FMH

Das höchste symphonische Talent unter den Frauen

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I wanted women to have a voice in their health care

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