Perspektiven in Zeiten der Krise.

Die Welt steht still. Was kann Kultur in einer globalen Krisensituation leisten? 

Sie kann stützen, motivieren, Impulse liefern, Perspektiven zeigen. 

Eine beschnittene Frau ist wie ein Stein

Eine beschnittene Frau ist wie ein Stein

Alle 10 Sekunden werden die Genitalien eines Mädchens unter 12 Jahren verstümmelt. Weltweit sind mehr als 200 Millionen Mädchen und Frauen von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen.

Der 6. Februar ist der internationale Aktionstag gegen weibliche Genitalverstümmelung. Diesen Tag nehmen wir zum Anlass, die kenianische Filmemacherin Beryl Magoko vorzustellen. Mit ihrem Dokumentarfilm „THE CUT“ (2012) erreicht sie ein breites Publikum, um für das weltweite Problem zu sensibilisieren. Sie weiß, wovon sie spricht, war sie selbst Opfer dieser grausamen Tradition.

Beryl Magoko
*1984, kenianische Filmemacherin

Beryl Magoko stammt aus dem Distrikt Kuria in Kenia. Sie hat zunächst an der Filmfakultät der Universität Kampala in Uganda studiert, bevor ihre Wege sie an die Kunsthochschule für Medien nach Köln geführt haben. Aus dem Jahr 2012 stammt ihr Dokumentarfilm „THE CUT“, ein aufwühlender und erschütternder Film über die Praxis weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, kurz FGM) in ihrem Heimatland. Die aktuelle Situation fasst die kenianische Filmemacherin so zusammen:

„In meinem Dorf werden die Mädchen jetzt schon mit sechs Jahren beschnitten, das ist horrible. Auf der anderen Seite gibt es mehr Information als 1994. Die Leute wissen es mittlerweile, FGM ist nicht gut, es ist gefährlich. Und trotzdem können sie nicht loslassen.“

Auch wenn sie zunehmend gesetzlich verboten wird, die weibliche Genitalverstümmelung hält sich in vielen Regionen dieser Erde hartnäckig. Tradition, Wertvorstellungen, Rollenbilder und mangelndes medizinisches Wissen sind eng miteinander verwoben, wenn es darum geht zu verstehen, wo die Gründe für ihr Fortbestehen liegen. 

Druck aus der Gemeinschaft

Der Druck der Gemeinschaft auf die Mädchen ist enorm. Im Film von Magoko erzählt eine junge Frau, dass sie die Beschneidung verweigert habe. Wie schaut daraufhin die Reaktion ihrer Familie aus? Die Antwort liefert eine Szene, in der ihre eigene Schwester Wasser auf den Boden schüttet: „Ich nehme kein Wasser von einer Unbeschnittenen.“ Der physische Schmerz ist präsent, ohne dass man Schnitte sieht.

Über diesen Druck und ihren Film erzählte Beryl Magoko auch bei ihrem Besuch im Frauenmuseum 2017, anlässlich der Ausstellung Maasai Baumeisterinnen aus Ololosokwan:

„Ich selbst wurde beschnitten. Ich wollte die Geschichte aus einer anderen Perspektive darstellen. Ich wollte mehr Menschen erreichen, damit wir zusammen diesen Mädchen helfen können, den Mädchen, die kurz vor der Beschneidung stehen. Es gibt einen enormen Druck, von den Eltern, von der Gesellschaft“

Podiumsgespräch mit Beryl Magoko im Anschluss an die Filmvorführung “THE CUT”. Begleitveranstaltung im Rahmen der Ausstellung Maasai Baumeisterinnen aus Ololosokwan. 2017. © Frauenmuseum Hittisau.

Podiumsgespräch mit Beryl Magoko im Anschluss an die Filmvorführung “THE CUT”. Begleitveranstaltung im Rahmen der Ausstellung Maasai Baumeisterinnen aus Ololosokwan. 2017. © Frauenmuseum Hittisau.

Öffentlichkeit, Information und Sensibilisierung

Gezeigt wurde „THE CUT“ auf dutzenden Filmfestivals in Paris, Los Angeles, Warschau oder San Francisco. Auf dem Feminist Film Festival in London wurde er als beste Feature Documentary ausgezeichnet. Eine hohe Präsenz hatte der Film ebenso in Afrika: 2021 wurde er auf dem 7. Internationalen Kenia Film Festival als bester afrikanischer Film ausgezeichnet. Einen wichtigen Preis erhielt er auch auf dem Fespaco Film Festival in Ouagadougou, dem bedeutendsten panafrikanischen Festival für Film und Fernsehen.

Das ist wichtig, nicht nur, weil Preise den Weg zur Finanzierung weiterer Projekte ebnen. Es ist vor allem wichtig, weil Verbote nicht ausreichen. Es braucht Öffentlichkeit, Information und Sensibilisierung, um eine Abkehr von der Weiblichen Genitalverstümmelung zu erreichen.

Was passiert bei FGM

FGM ist eine schwerwiegende Verletzung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit. Sie wird ohne medizinische oder religiöse Begründung durchgeführt. Die hygienischen Bedingungen sind meist mangelhaft, es wird kaum betäubt, operiert wird mit Rasierklingen oder Glasscherben. FGM ist ungleich invasiver als die Beschneidung von Jungen und Männern.

Den meisten Mädchen wird die Klitoris herausgeschnitten. Entwicklungsbiologisch würde das der teilweisen oder kompletten Entfernung des männlichen Penis entsprechen. Vielen Opfern werden zusätzlich die inneren Schamlippen und teils auch die äußeren Schamlippen entfernt. Und bei etwa 15 % aller Betroffenen wird die Infibulation durchgeführt: Hier werden Klitoris, innere und äußere Schamlippen herausgeschnitten und die vaginale Öffnung bis auf eine minimale Öffnung verschlossen. Die Genitalien werden teilweise auch verätzt, verbrannt oder der Klitorisnerv wird mit Nervengift abgetötet, um optisch den Anschein von Unversehrtheit zu erwecken. 

FMG hat langfristige Folgen, ist mit starken Schmerzen verbunden und führt nicht selten zum Tod. Die Gefahr von Infektionen ist sehr groß, das Lustempfinden wird stark beeinträchtigt, der Sexualakt ist äußerst schmerzhaft, Geburten werden hochriskant.

In 92 Ländern wird eine der vier Arten von FGM derzeit praktiziert (Stand: 2020). Mehr Infos dazu gibt es auf www.equalitynow.org

In 92 Ländern wird eine der vier Arten von FGM derzeit praktiziert (Stand: 2020). Mehr Infos dazu gibt es auf www.equalitynow.org

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Die Stimme der schwarzen Frau

Der Aktivismus gedeiht

Mädchen und Frauen werden durch FGM auf der Ebene der Sexualität kontrolliert. Für einzelne ist es schwer, aus dem Kreislauf von Kontrolle und Gewalt auszubrechen. Umso wichtiger ist es, darüber zu sprechen und aktivistisch vorzugehen.

Zahlreiche Frauen aus ganz Afrika kämpfen seit Jahrzehnten gegen die grausame Praxis. So hat etwa die senegalesische Sozilogin Awa Thiam schon 1978 das Buch „Die Stimme der schwarzen Frau“ publiziert, den ersten afrikanischen Text, in dem Phänomene wie Polygamie, Brautkauf und Genitalverstümmelung offen angesprochen werden.

Rhobis Samwelly

Rhobis Samwelly

Oder Rhobi Samwelly: Sie hat mehrere Safe Houses in Tansania gegründet. In den „sicheren Häusern“ finden Mädchen, die vor FGM Schutz flüchten, Schutz und Unterstützung, vor allem während der Beschneidungssaison im Dezember. Die Aktivistin schützt die Mädchen gegen die Forderungen nach Herausgabe. Gleichzeitig ist sie bemüht, ihnen eine sichere Rückkehr in ihre Familien zu ermöglichen. Dafür braucht es eine enge Kooperation mit den Behörden und viel Bewusstseinsbildung in den Familien selbst.

Rhobis Samwellys Aktivismus wurde 2016 im sehenswerten Film der kanadischen Dokumentarfilmemacherin Giselle Portenier – „In the Name of your Daughter“ – portraitiert.

Rekonstruiert

Das Problem ist längst in Europa angekommen. Die Innsbrucker Gynäkologin an der Uniklinik Innsbruck etwa, Dr.in Alexandra Ciresa-König, weiß um die medizinischen Folgen der Genitalverstümmelung. Sie hat sich auf Frauenheilkunde im Kontext von Migration spezialisiert. Seit vielen Jahren führt sie Rekonstruktionen des weiblichen Geschlechtsorgans nach FGM durch. Sie hat in Innsbruck vor allem Frauen aus Somalia rückoperiert. Ihre Arbeit erfordert ein hohes Maß an interkultureller Kompetenz.

Eine der von Alexandra Ciresa-König operierten Frauen ist Yasmin Abdullah. Mit großer Offenheit erzählt die junge, in Vorarlberg lebende Frau in ihrem Interview in der Ausstellung geburtskultur. vom gebären und geboren werden von ihren Erfahrungen und von ihrer Motivation, das Tabu zu brechen und offen zu sprechen: Sie ist selbst Mutter und würde niemals zulassen, ihre Tochter diesem grausamen Ritual auszuliefern.

Dr.in Alexandra Ciresa-König bei einem Kurzvortrag im Frauenmuseum Hittisau. Begleitveranstaltung im Rahmen der Ausstellung Maasai Baumeisterinnen aus Ololosokwan. 2017. © Frauenmuseum Hittisau.

Dr.in Alexandra Ciresa-König bei einem Kurzvortrag im Frauenmuseum Hittisau. Begleitveranstaltung im Rahmen der Ausstellung Maasai Baumeisterinnen aus Ololosokwan. 2017. © Frauenmuseum Hittisau.

Wunsch nach Designer-Vagina

Während Mädchen in vielen Ländern gegen ihren Willen beschnitten werden, boomen in der westlichen Welt die intimchirurgischen Eingriffe. Schamlippen verkleinern, glätten und straffen – mächtige Schönheitsideale und Normvorstellungen, nicht zuletzt durch die Pornografie geprägt, bringen unzählige Frauen und Mädchen dazu, sich unters Messer zu legen.

„Die Definitionsmacht des männlichen Blicks ist eine Form von struktureller Gewalt, der sich zu beugen und für die zu bluten immer mehr Mädchen und Frauen bereit sind”, sagt Christa Stolle, Geschäftsführerin der Frauenrechtsorganisation Terre de Femmes. Und weiter:

“Dass zumeist junge Mädchen entscheiden, dass sie ‚untenrum‘ nicht hübsch genug seien und bis zu 4000 Euro dafür sparen, eine schmallippige, haarlose, farblich unauffällige, geschlossene und somit kindliche Designermöse wie aus dem Hause Mattel geschnitzt zu bekommen, ist traurig.“

Christa Stolle

Text: Stefania Pitscheider Soraperra

Images:
Archiv Frauenmuseum Hittisau
https://www.equalitynow.org/fgmc_a_global_picture
https://information.tv5monde.com/terriennes/la-parole-aux-negresses-de-awa-thiam-livre-fondateur-du-feminisme-africain-367315
https://inthenameofyourdaughterfilm.com/rhobi/

Originale:

THE CUT. Ein Film von Beryl Magoko, UG/KE 2012, 43 min, Englisch, Kiswahili, Kikuria (O.m.U), Produktion: Andreas Frowein.
Awa Thiam, La Parole aux négresses (1978), Die Stimme der schwarzen Frau: vom Leid der Afrikanerinnen (1992), deutsche Übersetzung von Chantal Doussain und Anneliese Strauss, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt
In the Name of Your Daughter, Regie: Giselle Portenier, Kanada/Tansania, 2018, 84 min.
Der Spielboden Dornbirn hat den Film in Kooperation mit dem Frauenmusuem Hittisau im Rahmen des Human Vision Festivals 2018 gezeigt.


References:

Die österreichische Plattform gegen Genitalverstümmelung: http://www.stopfgm.net/
https://unicef.at/einsatzbereiche/fgm/
https://www.dw.com/de/die-geschichte-einer-beschneidung-portr%C3%A4t-der-kenianischen-filmemacherin-beryl-magoko/a-52367310
https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/beschnitten-beryl-magoko-auf-der-suche-nach-ihrer-weiblichen-identitaet-swr2-leben-2020-10-14-102.pdf
Rhobi Samwelly und ihr Hope Centre for Girls and Women: https://hopeforgirlsandwomen.wordpress.com/
https://www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/weibliche-genitalverstuemmelung/aktuelles/archiv/1297-anlaesslich-des-kommentars-der-task-force-zu-dem-film-the-cut
https://information.tv5monde.com/terriennes/la-parole-aux-negresses-de-awa-thiam-livre-fondateur-du-feminisme-africain-367315
'https://www.emma.de/artikel/christa-stolle-die-menschenrechtlerin-333875
Immer mehr Intim-Operationen bei Frauen: Der Trend geht zur „Designermöse“ – TAZ (8. Januar 2011)
https://www.equalitynow.org/fgmc_a_global_picture

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